Der Weg #4: Ins rollen kommen

Im Sommer musste ich mehrere kleine Rückschläge in kurzen Abständen wegstecken, die mich immer wieder ins Bett beförderten. Dieses Tal der Tränen scheint überwunden. So langsam komme ich ins „rollen“. Endlich!

 

Ein neues Rollstuhlsitzkissen brachte im August den entscheidenden Kick um meine Hautprobleme endlich abzuschütteln. Da ich nun länger im Rollstuhl sitze, kann ich mich endlich darum kümmern meinen Kreislauf so langsam in Schwung und meinen Oberkörper auf Vordermann zu bringen. Junge, Junge, da ist noch eine Menge zu tun.

 

Spaziergänge
Angefangen habe ich mit dem Rollstuhlfahren in der unmittelbaren Nachbarschaft. Durch die vielen kleinen Unebenheiten und das permanent vorhandene seitliche Gefälle auf den Straßen und Gehwegen sind die Belastungen für die Schultern recht schnell sehr hoch. Da artet im Handumdrehen die Spazierfahrt in eine Krafteinheiten aus. Dumm nur das ein hochgelähmter Rollstuhlfahrer nicht viel Kompensationsmöglichkeiten hat. So wird den ganzen Tag über immer nur ein kleiner Teil der Muskulatur der oberen Extremitäten beansprucht. Denn diese Muskeln brauche ich auch für alle anderen Verrichtungen im Alltag. Ganz besonders für die Transfers aus dem Bett und auf die Toilette. Selbst beim stabilisieren und halten meines Oberkörpers im Rollstuhl, am Essenstisch, beim Arbeiten am Computer oder beim kochen müssen diese Muskeln in einer Weise und Intensität arbeiten, die sie bisher nicht kannten. Da hilft es auch nichts, wie Popey viel Spinat zu essen, das braucht Zeit und Entlastung zwischendurch. Das ist aber leichter gesagt als getan. Drum brennen meine Schultermuskeln täglich immer wieder wie Bolle und die Verspannungen sind allgegenwärtig. Ich werde mich daher auch dem Dehnen wieder stärker widmen müssen. Vor dem Unfall war das ja auch ein fester Bestandteil meines Tages.

 

Aufrichtung
Eine weitere Herausforderung ist der instabile Oberkörper. Ich sacke in mich zusammen. Die Schultern hängen nach vorne, mache einen Buckel, das Zwergfell wird zusammengepresst und die Organe verschaffen sich nach unten hin Platz. Das sieht dann aus wie ein  „Schluck Wasser in der Kurve“ und das unter Insidern bekannte „Parabäuchlein“ kommt in Erscheinung. Durch die Lähmung fehlt die Spannung in den Strukturen und Muskeln, die normalerweise das Korsett zusammenhalten und die Organe an ihrem vorgesehenen Platz. Das Atmen fällt so natürlich auch schwerer, vor allem wenn ich nach oben atmen will. Ganz spannend wird’s, wenn ich mich mehrere Sekunden im Rollstuhl hochstütze und so den Oberkörper durch die Schwerkraft in die Länge ziehe. Damit kann ich mir gepflegt die Kreislaufsicherung raushauen und das Kribbeln im Bauch und den Beinen nimmt für Sekunden krasse Intensitäten an. Das fühlt sich an als würde alles Brustabwärts mit Blut geflutet werden. Hilft aber nicht, ich muss meinen Körper so oft es geht in diese Streckung bringen, damit er aus dieser zusammengefalteten Haltung herauskommt. Wenn ich das während eines Gesprächs mache kann es schon mal vorkommen, dass ich den einen oder anderen Satz nicht richtig mitbekomme, da in mir gerade ein Kreislauf-Orkan wütet.

 

Hill-Repeats
Einen der letzten warmen Sommertage habe ich genutzt, um mich an meinem Trainings-Haushügel mal zu erproben. In der Vorbereitung auf die Triathlon-Saison 2016 hatte ich bis zum Frühjahr hier unzählige Repeats über 100-200m absolviert. Das war sicher auch der Grund, dass ich meine Bestzeiten über die 10km und Halbmarathon damals aus dem normalen Training raus plötzlich einfach so pulverisieren konnte. In der Regel bin ich diese „Anhöhe“ einmal die Woche bis zu 12mal hoch gejagt. Als ich jetzt mit dem Rollstuhl anrückte, kamen die ganzen Erinnerungen hoch. Ich kroch dann 3mal hintereinander das geschätzte 4-5%ige Gefälle rauf, musste zwischendrin 2-3mal anhalten und war am Limit. Das ist eine ganz andere Nummer sowas im sitzen hochzudrücken. In der Umgebung gibt es auch kürzere steilere Hügelchen. Die habe ich auch schon ein paar mal getestet. Aufgrund der oben beschriebenen muskulären Gesamtbelastung halte ich mich mit solchen Touren aber erst mal etwas zurück.

 

Adaptivbike
Endlich konnte ich auch die ersten Kennenlernfahrten mit meinem Adaptivbike starten. Das Antriebsrad samt Kurbel wird einfach an den Rahmen meines Starrahmenrollstuhls geklemmt und schon kann es losgehen. Ich habe mich für ein Hypridmodell entschieden, bei dem ich eine Kraftunterstützung zuschalten kann, wenn mir mal die Energie ausgeht, ein längerer Anstieg zu überwältigen ist oder ich meinen Bewegungsradius mal ordentlich ausdehnen möchte. Angefangen habe ich mit Ausfahrten über 6km. Die optimale „runde“ Kurbeltechnik muss ich mir noch erarbeiten. Durch die konstante wippende Bewegung im Oberkörper bleibt mir auch schnell die Luft weg. Mit zunehmender Übung kann ich aber schon eine knappe Minute ohne Pause kurbeln. Noch bin ich zu schwach um ohne Kraftunterstützung zu fahren. Alleine das Adaptivbike wiegt 21kg. Aber auch daran werde ich arbeiten. Schnell bin ich noch nicht. Auf mehr wie kurzzeitige 25km/h bekomme ich das Gefährt nicht in Wallung, auch mit Kraftunterstützung nicht. Ausgelegt ist es scheinbar auch nur bis zu dieser Geschwindigkeit. Meistens zuckele ich so mit 8-12km/h durch die Gegend. Aber schon dieses Fahrtlüftchen in meinem Gesicht lässt mein Herz höher Schlagen. All die schönen Erinnerungen an das Rennradfahren kommen dann hoch. Ein Gefühl der Freiheit stellt sich ein.

 

Winterzeit
Mit etwas bangem Blick sehe ich dem Winter entgegen. Wenn es draußen nass, kalt und glatt ist oder gar Schnee liegt, habe ich mit meinem Rollstuhl und dem Adaptivbike schlechte Karten. Ich bin dabei mir Alternativen für das Indoor-Training zu organisieren. Leider haben wir zuhause nicht ausreichend Platz, um eine Rolle oder andere Geräte aufzustellen. Ich bin aber zuversichtlich, dass sich auch dafür eine Lösung finden lassen wird. Auch für das Adaptivbike konnte ich in der Nachbarschaft einen Abstellpatz finden. Danke an die Nachbarschaftshilfe Unterföhring die mich hierbei schnell und unkompliziert unterstützt haben. Es ist schön zu sehen dass es Menschen gibt, die sich ehrenamtlich für andere so engagiert einsetzen. DANKE !

 

#NeverStopBurning
Euer Karsten